Märkte & Meinungen
„Entscheidend ist, ob und wie Unternehmen ihre Kosten weitergeben können“
Herr Professor Simon, wir befinden uns nicht erst seit Aufkommen der Inflation in einem tiefgreifenden Strukturwandel. Gibt es überhaupt noch „den“ deutschen Mittelstand, wie wir ihn kennen?
Nach wie vor zählen sich selbst sehr viele deutsche Unternehmen zum Mittelstand – dementsprechend fallen auch immer wieder die Antworten bei Umfragen aus. Tatsächlich sehen wir jedoch, dass sich der Mittelstand immer weiter auseinanderdividiert. Auf der einen Seite stehen die Hidden Champions, also die Weltmarktführer in ihrem jeweiligen Segment, die international aktiv sind und teilweise fünfzig oder mehr Tochterfirmen im Ausland haben. Auf der anderen Seite sehen wir den klassischen Handwerksbetrieb mit wenigen Beschäftigten, der aber an seinem jeweiligen Standort eine wichtige Nische besetzt hat. Beide würden sich mit einiger Wahrscheinlichkeit als Mittelständler bezeichnen. Viel wichtiger als diese Definition ist allerdings die Frage, ob Unternehmen angesichts der höchsten Inflation seit 70 Jahren die gestiegenen Erzeugerpreise und andere Kosten weitergeben können oder eben nicht. Interessanterweise verfügen sowohl der Hidden Champion als auch ein Handwerksbetrieb mit Alleinstellungsmerkmal oft über eine solche Pricing-Power, da die Nachfragesituation in beiden Fällen das Angebot deutlich übersteigt. Allerdings gibt es zwischen diesen beiden Unternehmenstypen eine große Bandbreite an Firmen, die nicht so differenziert oder etabliert sind. Diese haben es nun deutlich schwerer als zuvor.
Gibt es jetzt auch Unternehmen, die eigentlich solide wirtschaften und gut aufgestellt sind – aber dennoch von der momentanen Situation stark in Mitleidenschaft gezogen werden?
Durchaus. Das liegt zum einen an der Inflation. Wenn Sie sich vorstellen, dass ein Mittelständler bei vielen seiner Komponenten riesige Kostensteigerungen in den Bereichen Energie, Rohstoffe, Halbmaterialien und Transport hat, dann kann dies einen massiven Druck erzeugen. Zudem können nicht alle Unternehmen diese Kosten einfach so an das nächste Glied der Wertschöpfungskette in Form höherer Preise weitergeben. Und oftmals schon gar nicht in Form einer einzelnen starken Erhöhung. Genauso sind Akteure betroffen, deren Fabriken nun stillstehen, einfach weil eine einzelne Komponente nicht verfügbar ist. Mittel- bis langfristig dürfte der Fachkräftemangel jedoch ein noch schwerwiegenderes Problem sein. All diese Faktoren haben indes eines gemeinsam: Wir haben momentan keine Absatzkrise, sondern eine Angebotskrise. Wenn wir in eine Rezession schlittern, kann sich das schnell ändern, zum Beispiel in der Bauindustrie.
Können Sie eine Prognose treffen, wie lange die Inflation in Kombination mit der Lieferkettenproblematik anhalten wird?
Zunächst einmal ist dafür eine exakte Definition des Begriffs Inflation nötig. Denn die Annahme, dass bei der Inflation die Waren immer teurer werden, ist im Grunde nicht richtig. Dazu ein Beispiel aus meinem aktuellen Buch: In der römischen Antike bekam man für eine Unze Gold eine maßgeschneiderte Tunika. Heute bekommt man für eine Unze Gold einen maßgeschneiderten Anzug – also ergibt sich dasselbe Verhältnis. Was stattdessen passiert ist, dass das nicht mehr an einen Goldstandard gekoppelte Fiat-Geld, also aus dem „Nichts“ geschaffenes Geld, immer mehr an Wert verliert. Geld ist somit gewissermaßen eine verderbliche Ware geworden, die Unternehmen möglichst schnell erhalten und möglichst schnell wieder loswerden wollen. Das zeigt sich auch an der Tendenz, mehr in die eigenen Bestände zu investieren oder im Fall von Aktiengesellschaften auch Aktien zurückzukaufen. Die momentane Inflation ist zusammengefasst eine späte Nachwirkung der Krise von 2008 – und der dementsprechenden Geldpolitik und der Aufblähung der Geldmenge. Seit 2010 ist die Geldmenge im Euroraum beinahe um den Faktor 3 gestiegen, das Bruttoinlandsprodukt aber nur um den Faktor 1,3, also um 30 Prozent. Oder mit anderen Worten: Zu viel Geld jagt zu wenig Ware. Dass die EZB jetzt nicht einfach die Zinsen stark erhöhen kann, wird auf Jahre das Problem bleiben – selbst wenn die derzeitigen Lieferengpässe und die Coronapandemie dann hoffentlich bereits Geschichte sind.
Was bedeutet das für die Gewinnentwicklung der Unternehmen?
Unternehmen sollten sich nicht von wachsenden Umsatzzahlen und von Scheingewinnen täuschen lassen, die bei hoher Inflationsdynamik dadurch entstehen, dass die Ausgaben auf dem vergangenen Preisniveau mit den Einnahmen auf dem jetzigen Preisniveau gegengerechnet werden. Auf diese Weise können im schlimmsten Fall trotz eines realen Verlustes auch noch Steuern anfallen. Zudem sollte eine wichtige Formel beachtet werden: Gewinn ist gleich Preis mal Absatzmenge minus Kosten. Zwei der drei Gewinntreiber, Kosten und Absatzmenge, sind von einer Inflation negativ betroffen. Denn eine Reaktion auf die Inflation besteht darin, dass weniger oder billigere Produkte gekauft werden. Der Preis ist der einzige Hebel gegen die beiden negativ betroffenen Gewinntreiber. Dementsprechend sollten Unternehmen rechtzeitig, also proaktiv, ihre Preise erhöhen und nicht erst darauf reagieren, wenn die gestiegenen Kosten dies erzwingen.
Eine Folge der unterschiedlichen Formen der Fiskalpolitik ist auch der schwächere Euro, verglichen mit anderen Weltwährungen. Ist das zurzeit ein wichtiger Faktor?
Eher weniger. Bei einem schwachen Euro sind deutsche Unternehmen international wettbewerbsfähiger, aber man erzielt auch weniger Umsatz, wenn man die Fremdwährung wieder gegen Euro eintauscht. In gewisser Weise ist dies ebenfalls Selbsttäuschung – ein schwacher Euro wirkt sich in der eigenen Kasse eher schlechter als besser aus. Deshalb würde ich keinem Unternehmen raten, strategisch darauf zu setzen. Vielmehr kommt es auf das Große und Ganze an – auf die Entwicklung der Globalisierung und der Märkte in den asiatischen Ländern, in China sowie in den USA. Die derzeitigen Wechselkurse sind dabei ein eher temporärer Effekt.
Apropos Globalisierung. Wie bewerten Sie den Trend des Nearshorings und der Vor-Ort-Produktion? Ist er ebenfalls temporär oder wird er auf Jahrzehnte hinaus Bestand haben?
Es ist ein sehr aktueller Trend, der aber auf lange Zeit Bestand haben wird. Dahinter stehen übergeordnete Entwicklungen und auch unternehmerische Prinzipien. Unter anderem dasjenige, dass jede Aktivität an dem Ort der Welt ausgeübt werden sollte, wo sie am besten erledigt werden kann. Die politischen Spannungen zwischen China, den USA und Europa sorgen dafür, dass der Handel beziehungsweise der Import schwieriger werden. Auch der Klimawandel und die gestiegenen Energiekosten machen weite Transporte teurer. Deswegen setzen immer mehr Unternehmen auf Direktinvestitionen. Tesla in Grünheide und Intel in Magdeburg sind nur zwei Beispiele. Ich hatte vor Corona ein Treffen mit einhundert chinesischen Automobilzulieferern, die alle in Deutschland produzieren wollten – und es zum Großteil immer noch wollen. Nur auf diese Weise können sie mit den deutschen Autobauern richtig ins Geschäft kommen. Umgekehrt ist es übrigens ebenso. Zwei europäische Unternehmen haben ihre Kompetenzzentren für Bergwerkstechnik nach China verlegt, da dort der Bergbau einen ungleich höheren Stellenwert hat als in Europa. Andere Hidden Champions verlegen ihre Forschung und Entwicklung ebenfalls nach Fernost, unter anderem entwickelt ein Hidden Champion zurzeit einen Campus für die Entwicklung künstlicher Intelligenz in Shanghai, da dort die Forschungsbedingungen besser sind als hierzulande.
Ist diese Entwicklung zwangsweise nachteilig für Deutschland?
Keinesfalls. Wie eben beschrieben ist Deutschland nach wie vor ein hochinteressantes Land für internationale Unternehmen. Und es gibt ein enormes, weitgehend ungenutztes Potenzial, das auch auf das Immobiliensegment einwirkt: Es gibt mehr als 2.000 deutsche Fabriken in China, die überwiegend auf der grünen Wiese, also als Greenfield-Projekte, entwickelt wurden. Gleichzeitig gibt es zurzeit nur fünf chinesische Greenfield-Fabriken in Deutschland. In zehn Jahren werden es einige Hundert, wenn nicht mehrere Tausend sein. Das erfordert aber in vielen Fällen zwingend einen Neubau. Eine Batteriefabrik für die E-Mobilität kann man beispielsweise nicht übernehmen, man muss sie neu entwickeln, so wie es Gotion gerade in Göttingen getan hat und CATL in Thüringen tut. Aber auch die deutschen Unternehmen brauchen angesichts dieser Entwicklungen vor Ort neue, moderne Flächen, die zur veränderten Supply-Chain passen.
Mit anderen Worten verbinden sich zurzeit sinkende Gewinnmargen, weniger günstiges Fremdkapital und der Grundstücksmangel mit einem massiven Bedarf nach neuen Flächen. Ist das kein Konflikt?
Das ist eine sehr komplexe Frage. Beginnen wir einmal beim Kapital: Zinsen von einem Prozent oder weniger sind eine historische Ausnahme, die es vorher in der Form noch nie gegeben hat. Während hier also eher wieder Normalität einkehrt, lohnen sich einige fremdkapitalgestützte Investitionen weniger. Es wird also durchaus enger, dennoch sind Investitionen in neue Flächen in vielen Fällen eine unternehmerische Notwendigkeit. Weniger pessimistisch als viele meiner Kolleginnen und Kollegen bin ich hingegen bei der Verfügbarkeit von Land. Ich sehe immer wieder, welche Anstrengungen die Städte und Bundesländer unternehmen, um gezielt Firmen anzusiedeln – sie vertreten ihre Interessen übrigens immer häufiger auch vor Ort in China. Außerdem sind die Mühen groß, bisher langwierige Prozesse zu beschleunigen. Wir sehen das beispielsweise am LNG-Terminal in Wilhelmshaven. Dort geschieht gerade in wenigen Monaten, was früher gut und gerne zehn Jahre gedauert hätte. Ein weiterer Aspekt, der für positive wirtschaftliche Impulse sorgen kann, sind die zahlreichen exzellent ausgebildeten Fachkräfte aus der Ukraine. Hier sollten wir alles daransetzen, die Integration in den Arbeitsmarkt – sowie die Möglichkeit zur Unternehmensgründung – zu begünstigen. Auch grundsätzlich sollten wir stärker gezielte Einwanderung fördern, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken.
Sind deutsche Unternehmen denn kulturell überhaupt dafür bereit – Stichwort Diversity?
Da gibt es eine große Streubreite. Zahlreiche mittelständische Unternehmen sind mental schon sehr weit in Sachen Internationalisierung und Diversity. Das gilt allerdings nicht für jeden Betrieb, gerade lokale Unternehmen tun sich hier oft noch schwer. Ich sehe aber nicht die Unternehmenskultur als größten Engpass, sondern den Spracherwerb – vor allem, wenn es sich um hochqualifizierte Kräfte handelt. Dazu ein Beispiel: Mein Sohn hat vor einigen Jahren als Karlsruher Student ein Gastsemester am Indian Institute of Technology (IIT) in Chennai verbracht, das sehr international ausgerichtet ist. Von den jährlich etwa 4.000 Absolventinnen und Absolventen des IIT – so sagte mein Sohn – sitzen am nächsten Tag rund 3.000 im Flugzeug in die USA, da sie dort mit ihren Englischkenntnissen sofort beginnen können. Nur ein Bruchteil von ihnen beginnt hingegen die berufliche Laufbahn in Deutschland. Umso mehr müssen wir hierzulande tun, diese Barriere abzubauen und Lösungen anzubieten.
Kommen wir noch einmal auf die Inflation und die Kostensteigerungen zurück. Aus Sicht der Vermieter von Gewerbeimmobilien gilt der inflationsindexierte Mietvertrag als Sicherheitsfaktor. Wie bewerten Sie das aus Sicht der Mieter?
Im Gewerbebereich ist das Problem nicht so groß wie im Wohnsegment, da Unternehmen in aller Regel mit Kostensteigerungen besser umgehen können als private Haushalte. Aber trotz der Indexierungsklausel gibt es zahlreiche Unternehmen, die bei Mieterhöhungen um Aufschub bitten, beispielsweise auf das folgende Jahr. Sollte ein Vermieter darauf eingehen? Mein Rat wäre: Ja. Es geht häufig darum, nicht stur den Vertrag durchzusetzen, sondern flexibel zu sein und weiterhin eine partnerschaftliche Beziehung zu pflegen. Auf lange Sicht ist das für beide Parteien das Beste. Ich denke aber auch, dass die kommenden Jahre schwieriger für den Immobiliensektor werden als die bisherigen. Wir werden das wahrscheinlich in Form sinkender Verkaufspreise und rückläufiger Neubautätigkeit erleben. Im Umkehrschluss kann ich nur all denjenigen Unternehmen gratulieren, die jetzt bereits günstig mit Fremdkapital finanziert sind und gute Flächen vermieten – zum Beispiel aus dem Bereich Lager und Logistik. Abgesehen von den ESG-bezogenen Sanierungsaufwänden, die sie jetzt haben, sind sie in der jetzigen Situation sehr gut aufgestellt – denn auch hier ist der Nachfrageüberhang intakt.
Sie sprechen das Themenfeld ESG an. Wie wichtig ist die ökologische und soziale Nachhaltigkeit jetzt für Mittelständler und andere deutsche Unternehmen?
Natürlich ist das von Unternehmen zu Unternehmen sehr unterschiedlich. Für einige ist die Einhaltung der Pariser Klimaziele bis 2050 immer noch Priorität Nummer eins. Bei anderen sehe ich im Moment jedoch, dass das Thema zurzeit ein wenig pausiert – einfach, weil sich die Prioritäten und Bedürfnispyramiden angesichts der Inflation gerade sehr schnell ändern. Doch auch das ist nur ein Zeitausschnitt aus der Gegenwart. Vielmehr sehe ich vor allem in der jetzigen Energieproblematik auch die vielleicht wichtigste Chance für deutsche mittelständische Unternehmen. Wir haben eine sehr gute Positionierung, einen hohen Wissensstand und eine starke Innovationskraft in den Bereichen Neue Materialien, Recycling und Remanufacturing gerade bei industriellen Produkten. Erst kürzlich hat mir ein Unternehmen ein völlig neues regeneratives Heizungssystem vorgestellt. Wenn das weltweit vermarktet werden kann, ergeben sich einzigartige Wachstumschancen. Hieran zeigt sich einmal mehr, warum im Chinesischen sowohl im Wort Krise (weiji; 危机) als auch im Wort Chance (jihui; 机会) das Schriftzeichen für Gelegenheit (机) steckt.
Herr Professor Simon, vielen Dank für das aufschlussreiche Gespräch.