Roter Süden – blauer Nordosten: Welche Faktoren die Zukunftsfähigkeit der deutschen Wirtschaftsregionen prägen

Interview mit Kathleen Freitag, Projektleiterin Prognos Zukunftsatlas

Kathleen Freitag verantwortet als Projektleiterin den Zukunftsatlas, den die Prognos AG alle drei Jahre veröffentlicht. Im exklusiven Interview erläutert sie die Wechselwirkungen zwischen zukunftsstarken Branchen und Regionen – und verrät, warum wirtschaftliche Monostrukturen mit tonangebenden Unternehmen besser sind als ihr Ruf.

Schon der erste Blick auf die Deutschlandkarte zeigt: Sie bewerten Süddeutschland in den Gesamtrankings als besonders aussichtsreich. Woran liegt das?

Seit wir den Prognos Zukunftsatlas erstellen, zeigt sich ein Grundmuster: Süddeutschland verfügt über die höchste Zukunftsfestigkeit und die meisten Regionen mit hohen Zukunftschancen. Momentan liegen 26 der 30 im Gesamtranking bestplatzierten Standorte im Süden. In Baden-Württemberg taucht beispielsweise auf unserer Landkarte kein einziger blauer Fleck – also ein weniger zukunftsstarker Landkreis beziehungsweise eine Stadt – auf. In Bayern ist das ein bisschen anders. Einerseits gibt es Topstandorte, andererseits existieren im Hinterland auch Zukunftsrisiken. Insgesamt kulminieren die Zukunftschancen in Süddeutschland, da sich dort starke Wirtschaftsstandorte über Jahrzehnte hinweg entwickelt haben. Es ist wichtig zu verstehen, dass diese langfristigen Entwicklungsprozesse dazu geführt haben, dass die Standorte im Wettbewerbsvergleich jetzt so weit vorne stehen. Solche Vorsprünge lassen sich selbst in dynamisch wachsenden Regionen nur schwer aufholen.

Quelle: Prognos AG/Handelsblatt

Was macht einen Standort besonders zukunftsstark?

Ein Zukunftsstandort zeichnet sich durch zwei maßgebliche Kriterien aus: Erstens durch eine hohe Wirtschaftskraft und zweitens durch eine Konzentration von Arbeitsplätzen in denjenigen Wirtschaftszweigen, die wir Zukunftsbranchen nennen. Gemeint sind damit diejenigen Branchen in Deutschland, die sich nach unserer Erwartung bis 2040 insgesamt besser entwickeln werden als andere. Das bezieht sich auf die Wertschöpfung, aber auch auf die Beschäftigungssituation. Insgesamt haben wir zwölf Zukunftsbranchen identifiziert. Darunter ist das Automobilsegment, das meiner Einschätzung nach auch in 20 Jahren noch tonangebend sein wird. Aber auch Maschinenbau, IT, Logistik oder Gesundheitswirtschaft gehören dazu. Was uns immer wieder auffällt: An den süddeutschen Zukunftsstandorten sind etwa die Hälfte bis zwei Drittel aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesen Zukunftsbranchen tätig. An den übrigen Standorten ist der Anteil deutlich geringer. Daraus entstehen dann wiederum Schneeballeffekte, denn die hochqualifizierten Arbeitskräfte sorgen mit ihrer Kaufkraft für eine Weiterentwicklung der Region, weshalb diese wiederum neue Menschen anzieht.

Quelle: Prognos AG/Handelsblatt

Das heißt, die starken Standorte werden unweigerlich immer stärker?

Nein, es gibt auch Wachstumsgrenzen, vor allem im Süden. Vollbeschäftigung heißt ja auch, dass kurz- bis mittelfristig kaum neue Arbeitskräfte zur Verfügung stehen, oder aber, dass die Lohnkosten sowie oft auch die Grundstückskosten so hoch sind, dass der Betrieb unwirtschaftlicher wird. Diese Wachstumsschmerzen sorgen dafür, dass standortsuchende Unternehmen sich durchaus in anderen Regionen ansiedeln.  In unseren aktuellen Ausgaben des Prognos Zukunftsatlas sehen wir beispielsweise ein Erstarken der Regionen im Nordwesten – eben aus diesem Grund. Viele der damaligen Regionen aus dem Mittelfeld sind heute Zukunftsstandorte, weil sie einen guten Mix aus starken mittelständischen Strukturen bei moderaten Geschäftskosten und einer guten Infrastruktur bieten. Natürlich gibt es auch immer wieder Fälle, in denen sich zukunftsstarke Unternehmen in Regionen ansiedeln, die noch am Anfang ihres Wachstumskurses stehen oder bislang keinen starken Wirtschaftskern haben. Für diese Regionen ist das oft ein Glücksfall, denn sie erhalten einen wichtigen Impuls, der anderen Regionen fehlt. Oder anders gesagt: Es gibt einen Grund dafür, dass Grünheide mit der entstehenden Tesla-Fabrik in so vielen Artikeln als Positivbeispiel zitiert wird.

Quelle: Prognos AG/Handelsblatt

Viele der Spitzenstandorte im Ranking sind maßgeblich von einem einzelnen Unternehmen geprägt. Ist das keine Gefahr?

Monostrukturen sind Fluch und Segen zugleich. Aber ich glaube, dass die Risiken in der aktuellen Debatte zu hoch aufgehängt werden. Stärker diversifizierte Regionen haben ihre Vorteile – so weit, so klar. Aber auch eine Monostruktur ist nicht zum Scheitern verurteilt. Nehmen wir die Beispiele VW in Wolfsburg, Audi in Ingolstadt, Mercedes-Benz in Böblingen oder auch Siemens in Erlangen. Diese Unternehmen sind derart dominant innerhalb der deutschen Wirtschaft, dass ich mir nicht so recht vorstellen kann, wie sie in ernsthafte Zukunftsrisiken geraten können. Darüber hinaus haben Regionen mit Großkonzernen  auch einen wichtigen Vorteil: Unternehmen und öffentliche Entscheidungsträger können den Standort gemeinsam positiv prägen und aus eigener Kraft viele Entwicklungsimpulse setzen. Außerdem können dominante Unternehmen auch direkt in die lokale Standortentwicklung investieren, beispielsweise in Form von Werkswohnungen oder indem sie sich am Infrastrukturausbau beteiligen. Das spielt wiederum dem Unternehmen in die Hände und sorgt direkt für eine positive Unternehmensentwicklung.

Welche Rückschlüsse lassen sich von Ihren Modellen auf die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands im internationalen Vergleich ziehen?

Der Zukunftsatlas analysiert vor allem die Chancen der einzelnen deutschen Regionen untereinander. Was jedoch die gesamtdeutsche Entwicklung betrifft, lässt sich feststellen, dass sie auch während des Corona-Schocks sehr stabil war. Auch das oft zitierte Urteil über die Innovationsmüdigkeit Deutschlands lässt sich zumindest in den Zukunftsbranchen nicht feststellen. Wenn Deutschland sein Fachkräfteproblem lösen kann, blicke ich zuversichtlich in die Zukunft.

Gibt es so etwas wie Hidden-Champion-Regionen – also Standorte, die unterschätzt werden oder die besser als ihr Ruf sind?

Ja, die gibt es natürlich. Hier fallen mir einige deutsche Mittelstädte oder kleinere Großstädte ein. Diese haben in vielen Fällen gute bis sehr gute Perspektiven, geraten aber nur selten ins Licht der Öffentlichkeit. Die Stadt Fürth hat es beispielsweise geschafft, sich kontinuierlich im Ranking nach vorne zu arbeiten. Gehörte Fürth im Zukunftsatlas 2010 mit Rang 167 noch zu den Regionen mit ausgeglichenen Chancen und Risiken, belegt sie in der 2022er Ausgabe Rang 55 und verfügt über gute Zukunftschancen. Aber auch Landkreise weisen ähnliche Entwicklungen auf. So sind Kreise wie das Emsland, Warendorf oder der Rheingau-Taunus-Kreis vom Mittelfeld in die Zukunftschancen aufgestiegen. Es sind auch nicht unbedingt diejenigen Städte oder Landkriese, die das Ranking anführen – in vielen Fällen erfolgt das Wachstum kontinuierlich und langfristig. Besondere Vorteile bieten hier diversifizierte Wirtschaftscluster, die es durchaus auch in kleineren Standorten gibt. Genauso spannend kann jedoch ein dominanter Mittelständler sein, beispielsweise einer der unbekannteren deutschen Weltmarktführer, die öfters an solchen Standorten zu finden sind.

Vielen Dank für das Interview, Frau Freitag.