Mehrfache Innenentwicklung – Brachflächen sind Multitalente

Interview mit Christa Reicher, RWTH Aachen, und Daniel Ulrich, Stadt Nürnberg

Brachflächen bergen ein enormes Potenzial für die Innenstadtentwicklung – eine Schlüsselressource im Kampf für Nachhaltigkeit, Klimaschutz und die Schaffung dringend benötigten Wohnraums. Lesen Sie mehr in unserem Doppelinterview mit Christa Reicher, Professorin für Städtebau und Entwerfen an der RWTH Aachen, und Daniel Ulrich, Baureferent der Stadt Nürnberg.

84.000 Hektar. Mindestens. Es könnten sogar bis zu 106.000 Hektar sein. Gemeint ist das Innenentwicklungspotenzial deutscher Städte und Gemeinden, das sich aus Brachflächen und Baulücken zusammensetzt. Erstere machen 40 Prozent des Gesamtpotenzials aus, letztere 60 Prozent. Erhoben wurden die Zahlen vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) im Jahr 2022. „Brachflächen sind ein riesiges Potenzial für die Innenentwicklung, sie müssen nur offensiver angepackt werden“, sagt Christa Reicher. Sie ist Professorin für Städtebau und Entwerfen an der RWTH Aachen. „Zumal sie die Chance bieten, gleichzeitig auf mehreren Ebenen bei den großen Herausforderungen unserer Zeit zu helfen.“

Ehemalige und ungenutzte Brachen in Stadtgebieten bieten enormes Innenentwicklungspotenzial.

Flächenvorrat für vier bis fünf Jahre

Eine Ebene für diese „mehrfache Innenentwicklung“ sei Nachhaltigkeit und Klimaschutz: „Die allererste Stellschraube für nachhaltigeres Planen und Bauen ist die Wiedernutzung von Flächenpotenzialen“, sagt Reicher. Der derzeitige Flächenverbrauch von 55 Hektar pro Tag für Wohnungen, Büros oder auch Infrastruktur geht dem Umweltbundesamt zufolge etwa zu 50 Prozent mit einer besonders umweltschädlichen Bodenversiegelung einher. Dabei müsste bei einem anhaltenden Verbrauch von 55 Hektar pro Tag ganze vier bis fünf Jahre lang kein einziger „neuer“ Quadratmeter Boden in Anspruch genommen werden, wenn man für jedes Projekt konsequent besagte 84.000 Hektar Innenentwicklungspotenzial nutzen würde. Potenzieren ließe sich der Umwelteffekt, wenn man auf den dann wiedergewonnenen Innenstadtflächen mit zukunftsweisenden Nachhaltigkeitskonzepten arbeitet.

Bezahlbarer Wohnraum – kombiniert mit Gewerbe

Eine weitere Ebene der mehrfachen Innenentwicklung betreffe den dringenden Bedarf an Wohnraum. „Die große Aufgabe der kommenden Jahre wird sein, die Nachfrage nach allen möglichen Preisklassen zu befriedigen, vor allem auch den günstigen“, sagt Christa Reicher. „Dabei können Brachflächen einen Vorteil bieten, weil die Erschließung für den Entwickler ökonomisch weniger aufwendig ist, sofern sie auf dem Areal bereits vorhanden ist. Zumindest im Umfeld ist sie häufig vorhanden, sodass die Flächen an den umgebenden Stadtraum angebunden sind.“

Neben dem Wohnen böten sich aber natürlich auch gewerbliche Nutzungen an. „Abgesehen von großformatiger Logistik, für die eher weitschweifige Brownfields in der Peripherie infrage kommen, eignen sich innerstädtische Brachflächen sehr oft für attraktive Mischnutzungskonzepte“, erläutert Reicher. Die Immobilienwirtschaft bringe da Weitsicht mit: „Selbst bei Hochhäusern, wo Mischnutzung aufgrund des hohen planerischen und baulichen Aufwands lange ungern gesehen wurde, hat ein Umdenken stattgefunden. Nutzungsmischung im Gebäude und im Quartier steht für Lebensqualität, und davon profitiert am Ende die ganze Region, denn sie zieht Unternehmen und Fachkräfte an. Das bezieht sich ausdrücklich nicht nur auf Büro- und Hotelnutzung – auch produzierendes Gewerbe, E-Commerce-Unternehmen und kleinere Logistiknutzungen können ausdrücklich Teil solcher Konzepte sein.“

Das, wofür das ,Urbane Gebiet‘ steht, ist in Europa seit Jahrhunderten Tradition.

Daniel Ulrich, Baureferent der Stadt Nürnberg

Mehr Pilotprojekte müssen her

Stichwort Aufwand: Mischnutzung sei nach wie vor nicht einfach zu realisieren. „Im Bau- und Planungsrecht hat das erwähnte Umdenken noch nicht konsequent genug stattgefunden.“ Reicher verweist auf Konflikte, insbesondere beim Thema Emissionen, und auf die Behäbigkeit, durch die Pilotprojekte und experimenteller Mut zu langsam vom Ausnahmefall zum Regelfall werden. „Wir brauchen mehr Instrumente, um besondere Areale anzukurbeln, analog zum Prinzip der Sonderwirtschaftszone“, fordert sie. Zumindest sei das „Urbane Gebiet“ als neue Kategorie in der Baunutzungsverordnung für Reicher ein Schritt nach vorne gewesen.

„Urbanes Gebiet“ im Sinne der Tradition

Auch Daniel Ulrich, Planungs- und Baureferent in Nürnberg, bewertet das „Urbane Gebiet“ positiv: „Ich habe die Idee, als sie vor ein paar Jahren aufkam, natürlich begrüßt und mich bei der Gestaltung des ,Urbanen Gebiets‘ im Kreis der Großstädte beim Bundesbauministerium eingebracht.“ Das „Urbane Gebiet“ stehe für das Miteinander von Leben und Arbeiten, von verträglichem Gewerbe und Wohnraum in qualitätsvollem städtischen Raum. „Das ist in Europa seit Jahrhunderten Tradition“, sagt Ulrich. „Nur war diese Tradition bauplanungsrechtlich in Deutschland durch die Träume von der autogerechten Stadt und die strikte Nutzungstrennung der Charta von Athen ein wenig aus dem Blick geraten.“

Luftaufnahme von Nürnberg Lichtenreuth
In Nürnberg Lichtenreuth entwickelt Aurelis auf der rund 100 Hektar großen Fläche des ehemaligen Südbahnhofs ein neues Stadtquartier mit Wohnungen, Einkaufsmöglichkeiten, Büros und einer vielfältigen sozialen Infrastruktur.

Es verwundert entsprechend wenig, dass Ulrich in Nürnberg die bundesweit ersten „Urbanen Gebiete“ festgesetzt hat – so auch im Aurelis-Projekt Lichtenreuth. Es umfasst 100 Hektar Fläche eines ehemaligen Güterbahnhofs und steht somit exemplarisch für die Wiedernutzung von Brachen – allerdings ist es wegen der enormen Größe kein Fall, den man allzu häufig unter den deutschlandweit 84.000 Hektar Potenzialflächen findet. In Nürnberg schon gar nicht: „Eine Entwicklung derart umfangreicher Areale wird es in unserer Stadt wohl nicht mehr geben, weil nicht davon auszugehen ist, dass weitere Flächen dieser Größe frei werden.“

Auch gewerbliche Brachen, die man umnutzen könnte, werde es nur noch in bescheidenem Umfang geben. „Während es früher Unternehmen wie Grundig oder Quelle gab, die mit ihrem Ende teils enorme Grundstücke für neue Quartiersentwicklungen zurückließen, haben wir heute eine eher kleinteilige, ausgewogene Wirtschaftsstruktur mit Hidden Champions und mittelständischen Unternehmen in Nürnberg“, sagt Ulrich. Wenn es Fluktuation gebe, werde eher mal eine Lagerhalle umgenutzt. Zum Vergleich: Selbst die großen Logistik- und Versandcenter-Areale von Quelle, die in Nürnberg frei wurden, umfassen „nur“ rund 7 Hektar.

Was ist im Zweifel wichtiger? Neuer Wohnraum oder ökologisch und sozial wertvolles Grün? Viele Brachflächen zeigen, dass sich die Frage gar nicht stellt. 

Christa Reicher, Professorin für Städtebau und Entwerfen an der RWTH Aachen

Aus Braun wird Grün

In einem Punkt allerdings ist das Projekt Lichtenreuth dann wieder allgemeine Blaupause für Brownfield-Revitalisierungen. Mit sehr viel Grün als Teil der Nachhaltigkeitsstrategie – ein Herzstück von Lichtenreuth ist der Stadtteilpark, der sich von Ost nach West durch das gesamte Stadtviertel zieht. „Er ist als grüne Lunge wichtig und bietet zugleich Aufenthaltsqualitäten und Orte für soziales Miteinander“, erläutert Ulrich. Idealtypisch sei außerdem die gemischte Nutzung, die neben Wohnen, Schulen und Gewerbe vor allem eine Universität umfasst: „Mit der Universität und den Menschen, die dort arbeiten und studieren, werden Start-ups und Gastronomiebetriebe kommen, die sich positiv auf den ganzen Nürnberger Süden auswirken“, sagt Ulrich.

Gegenseitig aufeinander abstrahlen

„Anschlussfähigkeit“, nennt Christa Reicher diesen Punkt. „Direkt oder indirekt die Defizite ausgleichen, die in der Nachbarschaft vorhanden sind, und gegenseitig positiv aufeinander abstrahlen.“ Das könne sich auf die gehobene Bildungsinfrastruktur beziehen oder auf eine neue Grünfläche wie in Nürnberg. „Was ist im Zweifel wichtiger? Neuer Wohnraum oder ökologisch und sozial wertvolles Grün? Viele Brachflächen zeigen, dass sich die Frage im Sinne der mehrfachen Innenentwicklung gar nicht stellt. Es geht gemeinsam, inklusive der Qualifizierung von Grün.“

Fazit: Nutzen wir das Potenzial

Insgesamt gilt: Natürlich ist es praktisch unmöglich, die eingangs genannten 84.000 Hektar Potenzialfläche sämtlich rasch und konsequent zu nutzen. Schon weil sich nicht jede Brache und Baulücke wegen ihrer Lage und ihres Flächenzuschnitts, der individuellen Größe oder der Rahmenbedingungen am Standort sofort für die unterschiedlichen Nutzungen eignet, die wir für eine zukunftsfähige Entwicklung unseres Landes brauchen. Fakt ist aber: Die Zahl von 84.000 Hektar ist ein Augenöffner. Es gibt mehr Potenzial, als viele glauben. Nutzen wir es! Für eine ökologischere Stadt- und Siedlungsentwicklung, die zugleich die dringenden Bedarfe der Menschen erfüllt.

Foto Daniel Ulrich: © Michel Kitenge