Stadt & Quartier
„Urbane Dörfer“
Warum die Kreativwirtschaft aufs Land zieht
Was sich hinter dem Begriff „urbane Dörfer“ verbirgt, wie sie entstehen und funktionieren, das erläutert Susanne Dähner vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung in unserem zoOM-Experteninterview.
Was sind heutzutage die wichtigsten Gründe, vom Land in die Stadt zu ziehen – und umgekehrt?
Die mobilste Bevölkerungsgruppe sind nach wie vor die Bildungswanderer: zwischen 18 und 25 Jahre alt, mit der Schule fertig und auf der Suche nach einer beruflichen Ausbildung oder einem Studienplatz. Die Ausbildungsplätze sowie die Jobs, für die sie ausgebildet wurden, finden sich hauptsächlich in den urbanen Zentren. Für einige wird in einem Alter, in dem Kinder ins Spiel kommen, das Leben in der Peripherie interessant. Viele junge Familien ziehen ins Umland der Städte.
Seit einiger Zeit entdecken auch digitalaffine Kreativ- und Wissensarbeitende das Leben außerhalb der urbanen Zentren für sich. Sie wollen aber nicht allein in einem Reihenhaus im Speckgürtel wohnen, sondern suchen sich Gleichgesinnte, mit denen sie gemeinschaftliche Wohn- und Arbeitsprojekte auch fern der Metropolen aufbauen. Diese neu auf dem Land Lebenden planen dabei nicht nur ihr eigenes Wohnprojekt, sie schauen auch über den Zaun und wollen ihr dörfliches Umfeld mitgestalten. Dies macht die Orte für weitere Zuziehende attraktiv und kann sie zu „Speckwürfeln“ in der Peripherie machen.
Wie sehen die sozialen Strukturen in dieser ländlichen Kreativ- und Wissenswirtschaft aus?
Wir haben für unsere Studie 18 gemeinschaftliche Wohn- und Arbeitsprojekte in Ostdeutschland analysiert. Die Initiierenden und die Bewohnerinnen und Bewohner stammen aus urbanen Milieus und wollen beim Umzug aufs Land ihr soziales Umfeld nicht verlieren. Daher treffen sie sich oft schon in der Stadt und planen, wie sie ihren Traum vom Leben auf dem Land gemeinschaftlich realisieren können. Der Knackpunkt ist: Obwohl es in den ostdeutschen ländlichen Regionen inzwischen einen Fachkräftemangel gibt, gibt es dort für Akademiker und Akademikerinnen wenig Jobs. Die Landlustigen müssen sich also überlegen, wie sie an ihrem neuen Wohnort weiterhin Geld verdienen können.
Welche Biografien haben die Menschen, die sich in diesen neuen ländlichen Gemeinschaftsprojekten zusammenfinden?
Wir haben vier Gruppen identifiziert, die den Wohnsitz auf dem Land mit dem eigenen Arbeitsleben verbinden: Erstens jene, die digital „remote“ auch von zu Hause arbeiten können, entweder angestellt mit Homeoffice-Vereinbarungen oder freiberuflich tätig. Dies sind Journalistinnen, Architekten oder auch Mediengestaltende. Um ihre Arbeit nicht allein am heimischen Schreibtisch erledigen zu müssen, bringen die ländlichen Digitalarbeitenden ein Raumkonzept aus den Städten mit: Coworking-Spaces. In vielen der 18 untersuchten Wohn- und Arbeitsprojekte sind solche gemeinschaftlichen Arbeitsräume mit geplant.
Dann gibt es zweitens eine Gruppe von Menschen, die in Jobs arbeiten, die nicht für Coworking und dezentrales Arbeiten geeignet sind, wie Lehrerinnen und Lehrer, in der Sozialpädagogik oder in der Medizin Tätige. Dies sind Berufe, die auch im ländlichen Raum gefragt sind. Sie suchen sich einen neuen Job am neuen Wohnort. Drittens die Gruppe, der diese Möglichkeiten nicht offenstehen. Sie pendeln weiterhin zur Arbeit in die Stadt, möchten aber lieber früher als später auf die Fahrerei verzichten. Und dann gibt es noch eine vierte Gruppe. Diese macht sich mit dem Weg aufs Land beruflich selbstständig, oft im Kontext des Projekts, zum Beispiel mit einem Gäste- und Seminarhaus oder mit einer eigenen Werkstatt.
Welches sind die wichtigsten Kriterien, die einen Standort attraktiv für diese vier Gruppen machen?
Die Mobilität und Erreichbarkeit ist allen Befragten sehr wichtig. Einen Bahnhof mit regelmäßigem Zugverkehr wünschen sich die meisten in der Nähe des neuen Wohnorts. Und sie suchen nach Möglichkeiten, wie sie auch ohne eigenes Auto auf dem Dorf mobil bleiben können, vom Carsharing bis zur Mitfahr-App. Konzepte, die sie aus der Stadt mitbringen.
Eine weitere zentrale Voraussetzung ist die digitale Anbindung: Wo kein Kabel liegt, können sich keine Wissensarbeitenden ansiedeln.
Genauso wichtig ist die Immobilie. Die meisten der Gemeinschaftsprojekte haben sich großer, leerstehender Immobilien und Grundstücke angenommen, darunter ein alter Vierseithof, eine frühere Schule oder ein Plattenbau. Sie bringen frisches Leben in sonst kaum vermittelbare Immobilien und in den Ort. Für Kommunen mit entsprechenden ungenutzten Gebäuden birgt dies eine große Chance.
Vieles, was an Infrastruktur nicht vorhanden ist, setzen die Projekte selbst um: Sie denken über Hofläden nach oder betreiben ein Café, eröffnen Galerien und organisieren Kulturfestivals.
Wie leben diese jungen, digitalaffinen Menschen mit der einheimischen Bevölkerung zusammen?
Gemeinsam ist den neuen Gemeinschaftsprojekten, dass sie keine Ufos im ländlichen Raum sein wollen. Sie interessieren sich für ihr Umfeld und möchten in Kontakt mit den Einheimischen sein. Gut läuft das vor allem dort, wo Projekte frühzeitig ihre Türen für die Einheimischen öffnen, beispielsweise den Hof für das jährliche Dorffest zur Verfügung stellen oder einen Tag der offenen Tür veranstalten. Manche städtischen Vorstellungen vom Landleben passen aber nicht unbedingt zu den lokalen Realitäten. So ist gemeinsames Gärtnern in der Stadt sehr angesagt, auf dem Land lockt das niemanden hinter dem Ofen hervor. Hier – wie so oft – hilft Fingerspitzengefühl und Kommunikation auf Augenhöhe.
Die neuen Gemeinschaftsprojekte wollen keine Ufos im ländlichen Raum sein.
Susanne Dähner, Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung
Was können die Kommunen machen, um junge Leute anzuziehen?
Ein offenes Ohr in den Kommunen und die Bereitschaft, sich auch auf neue Ideen einzulassen, kann schon viel bewirken. Viele Neuankömmlinge haben sich mehr Unterstützung auf dem Weg durch den Behördendschungel gewünscht. Sie brauchen oft Hilfe von unterschiedlichen Fachämtern und Behörden. Sie benötigen Baugenehmigungen, wollen einen Gäste- und Restaurantbetrieb auf ihrem Gelände eröffnen oder müssen in einigen Fällen mit der Denkmalschutzbehörde über den Umbau einer alten Scheune verhandeln.
Ein positives Beispiel für eine behördenübergreifende Kooperation haben wir bei zwei Projekten gefunden: eine Ämterkonferenz, bei der sich alle an einen Tisch setzen. So lernen sich die Beteiligten aus der Kommune und aus dem Projekt frühzeitig kennen und können besprechen, welche Pläne es gibt und wie und mit welchen Auflagen sie umgesetzt werden können.
Werden langfristig auch größere Konzerne das Landleben für sich entdecken, zum Beispiel, weil sie in den vergangenen Monaten durch die Coronakrise feststellten, dass sich auch dezentral produktiv arbeiten lässt?
Wir müssen erst einmal abwarten, ob sich die Coronakrise tatsächlich langfristig auf die Offenheit gegenüber dem Remote-Arbeiten auswirkt. Bei den Projekten unserer Studie handelt es sich aber auch um kleinteiliges Coworking mit wenigen Schreibtischen. Da geht es weniger um großflächiges dezentrales Arbeiten und Coworking-Vermietungskonzepte wie bei WeWork, sondern um einen gemeinschaftlichen Arbeitsort für Projektbeteiligte, Gäste und Menschen aus der Region.