„Diese schwarzen Schwäne waren nicht vorhersehbar“

Interview mit Hans-Joachim Lehmann, Mitglied der Geschäftsleitung bei HIH Invest Real Estate GmbH

Nach der Hochphase der Pandemie hatte die Branche auf „einfachere“ Jahre gehofft. Aber es kam anders. Das derzeitige Krisenszenario stellt alle vor bislang unbekannte Herausforderungen. Können dennoch bewährte Rezepte Lösungen liefern? Oder gilt es, völlig neue Strategien zu entwickeln? Sieht man die Lage mit langjähriger Erfahrung gelassener? Wir haben drei Branchenprofis nach ihrer Einschätzung gefragt. Hier die Meinung von Herrn Lehmann.

Herr Lehmann, kam die derzeitige Krise tatsächlich so überraschend?

Ja und nein. Mit einer hohen Inflation war nach Abebben der Pandemie durchaus zu rechnen. Aber vergessen Sie nicht: Davor sind sämtliche Marktberichte davon ausgegangen, dass alles kontinuierlich so weiterläuft wie bisher – es sei denn, es würde sich ein exogener Schock ereignen. Aber der stand eher als graue Theorie im Raum. Und dann kamen Schlag auf Schlag gleich mehrere dieser Schocks: die Coronapandemie, daraus resultierend das Abreißen der globalen Lieferketten, dann die hohen Teuerungsraten und schließlich der Ukraine-Krieg. Diese schwarzen Schwäne waren nicht vorhersehbar.

Wir haben die Dotcom-Blase, die Finanz- und Eurokrise gestemmt – sind wir denn mittlerweile nicht krisenerprobt?

Das sollte man meinen. Aber diese Krise ist einzigartig, weil sie nicht einzelne Wirtschaftszweige betrifft, sondern breite Teile der Gesellschaft. Nehmen Sie die Krise von 2008 – die hat vor allem die Finanzwirtschaft in Mitleidenschaft gezogen. Und die Kurseinbrüche beim Platzen der Dotcom-Blase zu Beginn der 2000er-Jahre haben etliche Internetunternehmen in die Insolvenz getrieben und vielen Anlegerinnen und Anlegern an der Börse enorm geschadet. Natürlich war auch da die Wirtschaft insgesamt von den Ereignissen beeinflusst. Doch Inflation und Rohstoffknappheit bekommen ausnahmslos alle zu spüren – und zwar unmittelbar: sämtliche Industriezweige ebenso wie die privaten Haushalte. Die Abhängigkeit von russischem Gas fällt uns auf die Füße, rüttelt aber auch wach und hat tiefgreifende Auswirkungen für unsere Im- und Exporte.

Welche Entwicklungen wird die Branche aus der Krise ableiten?

Wir erleben eine Deglobalisierung und damit einen Trend mit langfristigen Folgen. Bislang mag es genügt haben, bei den Flächenkonzepten Produktion und Backoffice zu berücksichtigen. Künftig müssen wir auch Forschung, Entwicklung und Logistik in unsere Überlegungen einbeziehen. Flexibilität wird zum Gebot der Stunde. Dafür bieten sich beispielsweise gemischt genutzte Gewerbe- und Unternehmerparks an. Doch nicht nur die Fläche muss flexibler werden, auch unsere Branche muss sich in weiten Teilen aus der Komfortzone bewegen.

Was genau meinen Sie damit?

Die ultraniedrigen Zinsen waren über viele Jahre wie eine Einladung zum Fremdfinanzieren. An diesen „süßen Honig“ hat sich die Immobilienwirtschaft über Jahrzehnte gewöhnt, was binnen zwölf Jahren zu einer Verdopplung der Angebotspreise geführt hat. Die derzeitige Zinsbewegung, die immer noch als historisch niedrig einzustufen ist, hat jetzt allerdings umso größere korrigierende Wirkung. Die Immobilienbranche wird folglich in die Zinsnormalität zurückfinden. Damit werden zwangsläufig eine Preisanpassung für Grundstücke und eine Veränderung der Baupreise einhergehen. Allerdings wird das Themenfeld ESG – also Umwelt, Soziales und verantwortungsvolle Unternehmensführung – dabei ebenfalls eine sehr große Rolle spielen.

Wie werden sich EU-Regulatorik und Gesetzgebung rund um das Thema ESG auf den Markt auswirken?

Im Prinzip zeichnet sich das schon ab. Die mieter- und investorenseitige Nachfrage nach ESG-konformen Flächen ist schon jetzt höher als das Angebot. Von daher denke ich, dass uns eine Phase mit gravierenden Veränderungen und hohen Investitionen bevorsteht – wenn auch deutlich stärker gesteuert und reguliert als in den wilden 2010er-Jahren. Die Bundesregierung drückt dabei aufs Tempo – das sieht man allein am plötzlichen Stopp der Bundesförderung für effiziente Gebäude Anfang dieses Jahres und den neuen, verschärften KfW-Förderbedingungen. Für einen Projektentwickler fühlt sich das an, als müsse er mit einem Tesla bei Tempo 200 rechtwinklig um die Ecke biegen.

Wie stellen Sie sich intern auf, um die Herausforderungen und das Tempo zu managen?

In den vergangenen Jahren sind wir bei HIH Invest stark gewachsen und diesen Kurs wollen wir auch beibehalten. Die Kunst besteht für mich darin, den Generationswechsel im Management souverän zu gestalten. Sehen Sie, viele der neuen Entscheider sind erstmals mit einer Immobilienkrise konfrontiert. Da ist das Senior-Management in hohem Maße gefordert, seine Erfahrungen weiterzugeben. Durch Schulungen lässt sich das nur bedingt darstellen. Deswegen sind die Begleitung und das Lernen im Daily Business gerade jetzt von entscheidender Bedeutung.

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